An Tichon Chrennikow
Sehr geehrter Tichon Nikolajewitsch,
auf Ihr Angebot hin kam ich am Montag, den 25./V, um 610 in den Verband, recht nervös wegen meiner zehnminütigen Verspätung. Dort traf ich auf andere Leute, die ebenfalls auf Sie warteten. Sie empfingen — in einem anderen Raum — die Schweden. Nach vierzigminütigem Warten hörte ich, wie Taisija Nikolajewna am Telephon zu jemandem sagte, daß Sie in einer halben Stunde erscheinen würden. Da bin ich gegangen.
Nicht bin ich gegangen, weil ich nicht warten wollte. Um eines Gespräches mit Ihnen willen hätte ich bis zum Morgen gewartet. Aber es stellte sich ein weiterer Grund — der dritte und wichtigste — ein, aus welchem ein Gespräch mit Ihnen im Verband mir als unpassend erscheinen mußte.
Ich bat Sie um eine Unterredung an einem anderen Ort in erster Linie deshalb, weil ich mich nach meiner vor zwei Jahren erfolgten Ausschließung aus dem Musfond irgendwie schämte, in den Verband zu kommen. Darin bestand der erste Grand für meine Bitte. Es kommt vor, daß der Mensch sich ohne triftigen Grund schämt. Und sogar, daß er sich schämt für die, die ihm Unrecht getan haben. Ich halte meine Verbannung aus dem Musfond im übrigen für keine himmelschreiende Ungerechtigkeit. Man kann jedoch die Motivierung dieser Verbannung nur als gleicherweise beleidigend für mich und für den Verband auffassen. Für den Verband — weil seine Organe verschiedener Ebenen dadurch zeigten, wie weit sie über der Notwendigkeit zu stehen meinen, ihre Entscheidungen mit Fakten zu begründen, die der Wirklichkeit entsprechen. Es zeigt sich, daß ihre hermetische Gleichgültigkeit den Menschen und der Musik gegenüber sie mitunter davon abhält, die einfachste Information zur Kenntnis zu nehmen, welche ihnen leichter zugänglich ist als jedem beliebigen: warum hat man mich nicht dafür ausgeschlossen, daß ich 15 Jahre lang keine Mitgliedsbeiträge zahlte?
Aber mich auszuschließen wegen das "Nichtvorhandenseins einer schöpferischen Tätigkeit" — das ist dem Begriff des Schaffens, und zwar des ehrlichen, d. h. inspirierten Schaffens, ein Schlag ins Gesicht. Dadurch hat man mich beleidigt, und wiederum auch den Verband, denn seit langem hätten seine Mitarbeiter meine Existenz von einem ganz anderen Ende her und in anderem Maße zur Kenntnis nehmen müssen als sie es taten.
Vor kurzem wurde in der Nummer einer deutschen Zeitschrift die dem musikalischen Leben in der UdSSR gewidmet ist, gesagt, daß einige sowjetische Komponisten — sie werden namentlich genannt — durch meine Vermittlung die "Enkel Weberns" seien. Die genannten Komponisten sind Leute, zu denen ich seit langen Jahrzehnten schon in herzlichsten Beziehungen stehe, die aber niemals meine Schüler waren. In diesem Zusammenhang muß ich hinzufügen, daß ich mir schwer einen Webern vorstellen kann, der die Köpfchen dieser seiner Enkelchen streicheln würde. Ich glaube, daß er ihre "Talente" (im evangelischen Sinne des Wortes) sehr ernst nehmen würde, aber nicht, wie sie diese "Talente" umsetzen. Aber ich kann mich irren.
Nein. Ich bin in keiner Weise der "Vater der russischen Dodekaphonie". Aber bedeutet das, daß ich mich "nicht mit schöpferischer (und gesellschaftlicher) Tätigkeit beschäftigte"? Und wenn ich die — sei es auch minderwertige — akustische Füllung von Fernseh- und Nichtfernsehfilmen angefertigt hätte, — wäre ich dann "ein schöpferisch Tätiger"?..
25 Jahre lang zeigte ich Dutzenden junger Leute, talentvollen und weniger talentvollen, sehr gescheiten und weniger gescheiten, wer Beethoven ist, wer Mozart ist, wer Bach ist. Wer Wagner und Mahler sind. Und Schönberg. Das wahre Wesen dieser großen Klassiker endeckte — zusammen mit Schönberg — Webern. Indem er das — von niemandem vor ihm fixierte — Vorhandensein zweier (entgegengesetzter und in ihrer Erscheinung nicht voneinander zu trennender) Prinzipien des musikalischen Bauwerks konstatierte, welche zudem ihren höchsten Entwicklungspunkt im Beethovenschen Schaffen erreichten, war Webern in der Lage, Beethoven als Bezugspunkt and Maßstab von allem zu betrachten, was vor und nach ihm geschrieben wurde. Eben hierdurch fand Webern einen Blickpunkt auf die Musikgeschichte, welcher sie als ein konkretes einziges Ganzes aufzufassen erlaubt. Die Aufmerksamkeit junger Leute gegenüber dem, was ich von Webern empfing und an sie w'eitergab, war für mich ein Antrieb, um eine Weiterentwicklung der Webernschen Lehre über das Wesen der musikalischen Form zu verwirklichen. Ich kann nicht nicht protestieren (aber nicht das war das Ziel meiner beabsichtigten Begegnung mit Ihnen) gegen die Formulierung meines Ausschlusses. Ich hätte mich nicht mit schöpferischer, ich hätte mich nicht mit gesellschaftlicher Tätigkeit befaßt!.. Das ist die Unwahrheit. Wahr ist nur, daß ich unter ungewöhnlichen Bedingungen arbeitete: bei mir zu Hause.
Aber das war nicht meine Schuld. Wie es auch nicht meine Schuld war, daß in dieser ganzen Zeit nur zwei (obschon umfangreiche) Aufsätze erschienen ("Die tonalen Quellen der Schönbergschen Dodekaphonie" — "Semiotika" № 6, Verlag der Tartuer Universität, 1974; "Über eine Invention J. S. Bachs. Zur Frage der Entstehung der Wiener klassischen Sonatenform", — "Semiotika" № 11, 1980). All meine übrigen — in beiderlei Sinn: gewichtigen — Materialien liegen vollständig in meinen Papieren und in meinem Kopf. Der Komponistenverbandbraucht Agronomen. Und, vielleicht, auch Geologen...
Der zweite Grund für meinen Wunsch, mich mit Ihnen außerhalb der Wände des Verbandes zu unterhalten, bestand darin, daß ich mich nicht an den Ersten Sekretär, sondern an einen Komponisten wenden wollte. An einen Musiker. Ich wollte mich an ihn wenden, wenn nicht um Hilfe, so doch um sachkundigen Rat, was auch eine Art Hilfe ist. Wir sind beide, Tichon Nikolajewitsch, Musiker. Daran ändert nichts, daß Sie alle Welt kennt und mich — niemand. Auch dann sogar, wenn wir nicht mit derselben (musikalischen) Myrrhe gesalbt sind, gebrauchen wir doch beide dieselben fünflinigen Notensysteme. Wenn nichts daran hindert, vibrieren wir beide, für Sekunden oder Stunden, aus verschiedenen Positionen oder nicht, in gleicher Weise im Widerhall der Vibrationen der Töne. (Häufig verkleidet sich die wahre Lage der Dinge in einer platten Sentimentalität.) Und nachdem ich schon zwei Jahre in einem langsam mich einsaugenden Morast stehe, entschloß ich mich, die Hand nach Ihnen auszustrecken, vielleicht ziehen Sie mich hinaus.
Allerdings — und das ist der dritte Grund —, als ich kam, saßen in Ihrem Vorzimmer Leute. Die vor mir eingetroffen waren. Sie erinnerten mich vortrefflich an jene Leute, die ich in längstvergangenen Jahren in Ihrem Vorzimmer gesehen habe, wartend auf Papiere mit Gesuchen an die Polizei, das Theater, das Krankenhaus, das Endbindungsheim, das Krematorium. . . Mit den vor mir in der Schlange Stehenden mußten Sie den von den Schweden nicht verschlungenen Rest Ihrer Wahrnehmungsfrische verausgaben. Aber ich bedurfte Ihrer vollen Aufmerksamkeit. Deshalb ging ich weg, ohne Sie abzuwarten.
Ein Mensch, den der Wind grausamer Jahre in Raten von Wien nach Taschkent geworfen hat, von wo aus er, sozusagen, auf allen vieren die Hälfte des Rückwegs schaffte, bedarf vor allem eben Ihrer Aufmerksamkeit.
Ich benötige Ihre Hilfe, um auch die zweite Hälfte des Weges zu bewältigen. Die Diensttuenden des OVIR sind überhäuft mit tausenden von Anträgen zur Ausreise nach Israel. Sie können in keiner Weise die Zeit noch die nötige Perspektive haben, um sich über den Unterschied zwischen meinem (vor zwei Jahren gestellten!) Antrag und allen übrigen ähnlichen Anträgen zu orientieren. All jene, die sie einreichten — wollen ausreisen. Aber ich — als einziger — will zurückkehren!!! Ich bin hier angekommen, um heimzukehren!.. Um in das vom Faschismus gereinigte Europa heimzukehren; etwas anderes habe ich mir in keiner Sekunde, weder vor noch nach meiner Ankunft in der Sowjetunion vorgestellt.
Als ich im Jahre 1940 in der UdSSR die Rettung vor dem sicheren Verderben fand, war ich 34 Jahre alt. Ich war bereits ein vollständig ausgeformter Mensch, bei dem die Horizonte seines musikalischen Denkens keiner, nicht einmal partiellen oder nebensächlichen, Änderung mehr unterworfen werden konnten. Hier fand ich einen günstigen Boden für die Entwicklung dessen, was ich dort empfing. Rußland erwies sich für mich als vortrefflicher Katalysator. In aufrichtigster Weise kann ich sagen, daß die russischen Menschen meiner Seele gemäßer sind als die Menschen anderer Meridiane. Aber es geht nicht um die Menschen: ich muß heimkehren. Ich brauche eine Reprise! Ohne sie verliert mein ganzes Leben jeden Sinn.
Ich möchte die Möglichkeit haben, mein Gefühl tiefer Dankbarkeit gegenüber diesem Land, für alles Gute, das ich hier empfing, unversehrt zu bewahren. Helfen Sie mir, lieber Tichon Nikolajewitsch!
Hochachtungsvoll
Herschkowitz
[Anfang der 80er]