An Jurij Cholopow
Als, Jurij Nikolajevvitsch, im VIII. Jahrhundert Kalif Omar die Bibliothek von Alexandria verbrennen ließ, begründete er seine Tat mit folgenden Worten: wenn die Handschriften dieser Büchersammlung sich nicht im Koran spiegeln, sind sie überflüssig; wenn sie sich darin spiegeln, sind sie ebenfalls überflüssig. Der Koran ist im gegebenen Fall meine Seele: Webern spiegelt sich darin in jenem außerordentlichen Maße, in welchem er sich darin nur spiegeln kann: er hat sie, diese Seele, geschaffen. Als die Seele eines Musikers, die unnachgiebig ist in ihrer tiefen Liebe zu den großen Meistern.
Niemand eignet sich so gut wie Webern, Gegenstand von Büchern zu werden, deren Lektüre mehr Zeit in Anspruch nimmt als nötig wäre, um all seine Werke nacheinander aufzuführen. Ich habe Angst vor diesen Büchern... Zweifellos, ich weiß über meinen Lehrer bei weitem nicht alles. Aber das, was ich weiß, verlangt nach seiner vollständigen Abschirmung von allem, was ich nicht unmittelbar empfing und empfange.
Er lehrte mich: wenn man im Orchester ein Instrument durch ein anderes verdoppelt, dann fügt das zweite dem ersten nichts hinzu, sondern im Gegenteil, es nimmt ihm etwas (von seinem spezifischen Timbre). Und so erwies sich der Umstand, dreimal monatlich im Lauf von fünf Jahren den Menschen zu besuchen, der unter der Adresse im Auholz 8, Maria-Enzersdorf bei Wien lebte, als eine so kristallklar reine Möglichkeit zur Teilnahme an seinem Denken, daß eine beliebige, sei es auch noch so gute, Verdoppelung dieser Möglichkeit für mich nicht annehmbar sein kann. Für mich ist Webern nicht nur nicht jene Celesta, die man durch ein Akkordeon verdoppeln kann, sondern sogar auch nicht jene Klarinette, der ein vibrierendes Violoncello als Kosmetik dienen könnte. Ich meine, daß ich das Recht auf eine "persönliche" Beziehung zu demjenigen habe, der am Wegrand seiner Zeit lebte.
Man hat mir gesagt (natürlich ohne Anfrage meinerseits), daß Sie in Ihrem Buch eine Masse Leute erwähnen, und daß neben ihren Familiennamen der meine nicht vorkommt. Indem ich die Berichterstatter kategorisch jene Namen nicht aufzählen ließ, konnte ich mir die Möglichkeit bewahren, Ihnen aus ganzer (obenerwähnter) Seele dafür zu danken, daß Sie meinen Namen in meinem Futteral beliessen. Ich reise schrecklich ungern im Gemeinschaftswagon!..
Aber ich muß Ihnen für etwas Wesentlicheres danken.
Dafür, daß Sie vor ungefähr 25 Jahren sich als ein wichtiger Bestandteil jenes Katalysators erwiesen haben, dessen Vorhandensein meine Absage an die weitere Beschäftigung mit musikalischem Pfuschhandwerk zur Folge hatte. Das Echo des Krieges, der mich völlig durchlöcherte, hörte im Laufe von über zwei Jahrzehnten nicht auf, für mich ein zerstörerischer Ultraschallton zu sein. Und zufällig kam ich nicht ohne Ihre — unschuldige — Hilfe wieder zur Besinnung. Sie waren einer der ersten, dem ich, spielend, — beginnend, wieder zu mir zu kommen... — etwas von dem zeigte, was Webern mich gelehrt hatte. Sie waren einer der ersten, dem ich es zeigte, aber der erste, der es aufnahm. Denn Sie sind ja ein Mensch mit Kenntnissen und Gaben... Dabei wiederholten Sie mir beständig: "Man wird Sie bestehlen". Aber wichtiger war etwas anderes: Sie brachten mich dazu, auf mich selber zu horchen. Sie gaben mir die Idee ein, (privat) zu unterrichten. Sie schickten Schüler zu mir. Durch die Schüler machte ich viele Schritte auf dem Weg, dessen Schlagbaum Webern für mich hochgehoben hat.
Erblicken Sie in dem Ausdruck dieser meiner Dankbarkeit keine verdeckte Anklage: ich glaube nicht, daß Sie mich bestohlen haben. Ich halte Sie für einen würdigen Menschen. Aber verstehen Sie mich: wenn ich nach der Lektüre Ihres Buches sehen werde, daß Sie mich nicht bestohlen haben, wird mir das nicht weniger weh tun als im entgegengesetzten Fall...
Sie sind ein Mensch, dem ich meine — uralte — Sympathie nicht aufkündigen kann.
Ich wünsche Ihnen, daß Sie die Gabe haben, Ihre Gaben aus Wein in Cognac zu verwandeln. Dies ist der einzige Erfolg, in Bezug auf welchen sich der Neid als echte Tugend erweist.
Ihr Herschkowitz
[Mitte der 80er]
Der Brief war ein Versuch, die Schenkung des soeben erschienenen Buches von Walentina und Jurij Cholopov über Webern abzuwenden (W. N. Cholopowa, Ju. N. Cholopow: Антон Веберн, Жизнь и творчество [Anton Webern. Leben und Werk], Moskau 1984).