Aus einem Brief an Leonid Breschnew
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Nicht über Czernowitz möchte ich etwas erzählen, wo ich in den letzten acht Vorkriegsmonaten an der Musikschule — auf deutsch — Harmonielehre unterrichtete, sondern über Kamenetz-Podolsk. In diese Stadt, durch das Tor ihrer (einstigen) Festung, kam ich am dritten (oder vierten) Juli 1941 um sieben Uhr morgens unter heftigem Regen und Bomben. Zum Goldfonds meines Gedächtnisses gehört die Mischung aus Entsetzen und der hingerissenen Wahrnemung der schlichten und doch noblen Schönheit von Kamenetz-Podolsk. Gegen Mittag traf ich im Bahnhofsgebäude auf alte Bekannte, — Hausnachbarn aus den Zeiten meiner Kindheit in Jassy!.. Wir tauschten einige Worte und ein kärgliches Lächeln aus. Sie warteten auf irgendeinen Zug; ich dagegen machte gerade die ersten Schritte meines weiteren Fußmarsches. In welche Richtung ich mich wandte, erinnere ich nicht. Aller Wahrscheinlichkeit nach gibt es auch nichts zu erinnern: vermutlich bewegte ich mich ohne jedes Ziel von der Stelle, — genau so, wie ich in den vielen folgenden Monaten nicht wußte, wohin mich die Füße oder kostenlose Züge und Dampfschiffe führen werden. (Aus Czernowitz fuhr ich los ohne einen Groschen, nachdem ich im Moment des unerwartet ausgebrochenen Durcheinanders nur einen — neuen — Wintermantel mit mir genommen hatte und außerdem noch ein Köfferchen, das dermaßen klein war, daß darin nur ein Paar, ebenfalls neuer, Schuhe unterzubringen war.) Als ich ein-zwei Kilometer durch ein Feld gegangen war, hörte ich plötzlich eine dumpfe Detonation, und den Kopf zur Seite der Stadt wendend, sah ich einen schwarzen Rauchschleier, der den Bahnhof überzogen hatte. Den Bahnhof und meine Nachbarn aus Jassy... Und sogleich richteten sich zwei Flugzeuge — offenkundig die, welche die Bomben abgeworfen hatten — im Tiefflug über das leere Feld direkt auf mich. Vielleicht kam es mir nur so vor, daß sie es gerade auf mich abgesehen hatten. Wie dem auch sei, die Bomben wurden von Maschinengewehren abgelöst, und ich, das einzige lebende Wesen auf der gesamten vom Auge zu umfassenden Fläche, warf mich auf die Erde, und nach derselben seltsamen Logik, nach welcher ich von zu Hause ein Köfferchen mit Schuhen gegriffen hatte, verbarg ich meinen Kopf, Gesicht nach unten, in einer seichten Pfütze. Und es ging gut aus.
In direktem Zusammenhang mit Kamenetz-Podolsk werde ich über Dnjepropetrowsk reden. Wo es ebenfalls gut ausging, aber durchaus in einem anderen Stil.
Der Tag — einer der ersten Augusttage — ging ohne Bombenangriff vorüber; nichtsdestoweniger erwies er sich als sehr schwer für mich. Ich trug nämlich einen Hut. Diese Kopfdeckung veranlaßte die Passanten, mich zur Miliz zu führen, wo man mich, sobald man Klarheit erlangt hatte, sogleich wieder laufen ließ. Leider wurden meine Beziehungen mit der Miliz zyklisch. Es verging nicht eine Stunde, und ich mußte von neuem durch (es scheint immer denselben) jüdischen Dolmetscher dem diensthabenden Beamten — dieser oder einer anderen Abteilung — meine Geschichte erzählen und meine Dokumente vorzeigen... Und wieder ließen sie mich frei. Erst die Nacht der verdunkelten Stadt erlöste mich. Entkräftet von Müdigkeit, Hunger (den ganzen Tag hatte ich keine Zeit zum Essen) und von der zu oft wiederholten Notwendigkeit zu beweisen, daß ich kein Spion bin, schleppte ich mich durch Dnjepropetrowsk. Als ich mich auf der Mitte einer sehr langen Brücke befand, begann Luftalarm. Und ich sah keine andere Möglichkeit, als meinen neuen Mantel auf der Brücke als Bettuch auszubreiten und mich schlafen zu legen, den Kopf auf dem Köfferchen mit meinen neuen Schuhen. Ich schlief so tief, daß ich auf diese Weise nicht erfuhr, ob das Bombardement stattfand oder nicht. Noch nicht damals, aber jetzt scheint es mir, daß ich durch die Übernachtung auf der Brücke mein Gesicht gerettet habe. Jenes Gesicht, das ich in Kamenetz-Podolsk in eine Pfütze fallen ließ. Wobei ich es überhaupt nicht mit Absicht rettete, was mir noch lieber ist. Am folgenden Tag fuhr ich weiter, mit dem Zug; es scheint nach Rostow.
Der Herbst fand mich in Taschkent. In Usbekistan, wenn auch unter für mich ungewohnten Umständen und bei weitem nicht sofort, fand ich den Weg zurück zur Musik. Um die Mitte meines fünfjährigen Aufenthaltes dort gelang es mir sogar, etwas Wertvolles zu tun: begeistert von der eigentümlichen Schönheit usbekischer Musik, zeichnete ich viele (150) sogenannte "klassische" Volkslieder auf. Ich möchte hier die Episode berühren, die als erste in meinem Gedächtnis auftaucht, wenn ich an meinen Aufenthalt in Mittelasien denke.
An einem sonnigen Märztag des Jahres 1942 las ich, schon (oder vorläufig — noch) mit Lumpen bekleidet durch eine stille Straße Taschkents spazierend (nach der Gewohnheit meiner Wiener Jahre), eine Partitur. (Die Partitur hatte ich mir im Komponistenverband genommen.) Auf einmal hörte ich hinter mir ein Gespräch zweier Männer, das ich nicht vergaß und niemals vergessen werde. Das Gespräch (in jiddischer Sprache) betraf mich. Es war sehr kurz. Ein Mann sagte: "Sieh! Er liest Noten!" Worauf ihm der andere antwortete: "Was bleibt ihm auch anderes übrig?" Vielleicht waren die Worte dieses Dialoges die für mich angenehmsten von allen, die ich über mich je gehört habe. Damals, unter den gutartigen (eben genau: gutartigen) Strahlen der Sonne — ich hatte den halbbewußten Eindruck, daß sie mich von ferne her besuchen kamen — fühlte ich, daß ich von den Lumpen mich befreien werde, und wenn auch sogar nicht mit der Hilfe von Partituren, so doch immerhin — ihnen nicht zum Schaden.
In Moskau traf ich im August 1946 ein.
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Des Brief wurde in den 80 Jahren geschrieben und erscheint hier in einer Übersetzung der Herausgeber. Abdruck desselben Passage im russischen Original: I, 343-345.