Aus Briefen an Leopold Spinner
I
12. Jänner 1940
Nein, mein lieber Spinner: nichts darf uns beide zum Schweigen zwingen. Über alles hinweg: wir dürfen unsere Beziehungen nicht auf-geben. Spezielle und allgemeinste Verhältnisse sind solcher Art, dass wir die Pflicht haben uns gegenseitig viel zu bedeuten. Und Du hast recht: halten wir es vor allem mit der Musik; — erst recht was unsere Korrespondenz betrifft. Also beginne ich diesen Brief dadurch, dass ich eine Kopie eines jener Briefe hier gebe, die ich an Dich gerichtet hatte ohne sie abzusenden. Zweifle nicht: solche Briefe hat es gegeben und geben müssen.
24./XI.39
Lieber Spinner. — Ich danke Dir für das Geschenk eines Gedanken über Musik. Ich will Dir ein Gegengeschenk machen. Ich teile Dir das mit, was ich in den letzten Stunden bei Webern über Wagners Architektonik erfahren habe.
In kurzen Worten. Es handelt sich um Mozart, — zu dem Wagner als eine Folgeerscheinung auf dem Gebiet der Oper zu werten ist.
Vorangehend sagte Webern: "Locker und fest... Aber einem ganz Lockeren gegenüber, ist schon ein weniger Lockeres als ein Festes anzusehen! Und nur von einer solchen Art Festem, wird bei Wagner die Rede sein. Aber auch schon in der Bühnenmusik Mozarts, wenn auch nur teilweise, in kleinerem Masse"[1].
Weil bei Mozart, werden wir auch ganz Festes finden: die Arien. Aber die Einleitungen zu den Arien, die Extra-Nummern darstellen, und die locker sind, sind denn nicht dennoch fester als die vorangehenden Recitative?
Wenden wir uns sogleich zu den Mozartschen Opernfinale, was uns ins Besondere (— in Bezug auf Wagner —) interessiert. Webern hat ein solches Finale mit mir analysiert. Was haben wir herausgefunden? Lose aneinander gereihte Stücke, alle locker, [aber die einen mehr und die anderen weniger;] welche aber: — nie vergessen in einer eigenen Tonart ganz tüchtig zu kadenzieren!! Und dann, eine erst recht tüchtige Kadenz für das ganze Finale...
Und so wie ein Finale bei Mozart, ist bei Wagner ein ganzer Akt gebaut. (Dazu, hantiere mit dem Begriff: Breite der Darstellung. — —)
Ich habe mit Anführungszeichen begonnen, die ich am Schluss nicht stellen kann. Zu Deiner Anregung wird aber das Obige genügen. [...]
II
14./1.40
Lieber Spinner.— Der Brief vom 11./I. den ich ein Tag vor Empfang Deines Briefes (vom 4./I.) an Dich gerichtet habe, wird Dich überzeugen, dass wir uns wiedergefunden haben und zwar auf der von Dir vorgeschlagen Basis.
Ich will (also) jetzt vom letzten Satz der 9. Symphonie sprechen, den ich eben jetzt eingehend gelesen habe. Das was ich jetzt sagen werde ist weder endgültig, noch vollständig; höchstwahrscheinlich auch nicht fehlerlos. Ich will es aber trotzdem sagen so wie es ist. Unsere folgende gegenseitige Erwiderungen werden alles allmählich vervollständigen und richtigstellen.
Ich glaube dass es sich um ein Rondo handelt, welches aber besondere Eigentümlichkeiten aufweist.
In ganz grossen Zügen gesprochen: das Hauptthema ist ein dreiteiliges Lied welches mehrmals wiederholt wird. Im Rahmen jeder Wiederholung: der erster Teil des Liedes — die Periode — wird nie wiederholt. Immer aber werden wiederholt der 2. und 3. Teil zusammen. Mit einer Ausnahme: aber diese gehört nicht mehr zum Hauptthema; — es handelt sich um den Teil in B Dur über den ich später sprechen werde.
Sieben Mal wird auf dieser Weise das Hauptthema nach einander gebracht; die ersten vier Mal ohne Chor, die letzten drei Mal mit Chor.
Die ersten vier Mal will ich — den letzten drei Mal gegenüber — auffassen, als das, was in einem Violin- oder Klavierkonzert das Tutti vom Anfang (bis das Soloinstrument einsetzt) ist. Erinnere Dich: wir haben einmal eingehend darüber gesprochen: wir haben es aufgefasst als eine ausgeschriebene Wiederholung der Exposition.
Hier handelt es sich nicht um ein Sonatensatz, sondern um ein Rondo und zwar — wie gesagt — um ein recht eigentümliches Rondo. Also brauchen wir uns nicht wundem dass dieses Anfangs-tutti nicht eine Exposition darstellet, sondernt sich auf das Hauptthema beschränkt. Aber was für [ein] Hauptthema! Schon das allein ein Variationensatz! Jedenfalls es ist sehr interessant dass der Chor (ich meine: Chor und Solisten) als gewissermassen Soloinstrument im Konzert gehandhabt ist. Höchstinteressant ist aber der Umstand dass dem Ganzen eine Einleitung vorangeht, die wiederholt wird vor Einsatz des Chores, (vor den letzten drei Mal von den sieben!) Das haben wir in keinem Konzert gesehen! Über diese Einleitung an sich, will ich in diesem Brief überhaupt nicht eingehen.
Ich will aber noch einmal zur Frage der vielen Wiederholungen des dreiteiligen Liedes zurückkehren und bemerken: Diese Wiederholungen sind in einer dreifachen Schichtung gelagert, sie sind konzentrisch möchte ich sagen. Nähmlich: die erste Schichtung: im Rahmen einer jeden Wiederholung wird 2. und 3. Teil des Liedes zusammen, wiederholt. Zweite Schichtung. Das ganze Lied — inbegriffen die schon in sich stattgefundene Wiederholung — wird "viele Male" wiederholt. Dritte Schichtung: diese "viele Male" — es sind vier, — werden noch einmal gebracht in der Form von "drei Male".
Dieser Wiederholungsschichtung werden wir uns in einem nächsten Brief besonders zuwenden müssen.
Jetzt möchte ich aber von den Schlusstakten und deren wiederholtes Vorkommen im Rahmen dieses Hauptthemas sprechen. Zu diesem Behufe, werden wir die sieben Mal dreiteiliges Lied, folgendermassen benennen:
la, 2a, 3a, 4a; |
G1b, 2b, 3b. |
1b und 2b bringen einen und denselben 4-takter, dessen Schlussfunktion einfachst dargestellt ist. la, 2a, und 3a besitzen überhaupt kein Anhängsel.
Ganz anders was 4a und 3b betrifft.
4a — Geht los von den 4 Takte des 1b und 2b, dehnt sich aber auf viel mehr als nur auf 4 Takte aus, und anstatt die Kadenz zu vollenden, auszuführen, bleibt sie beharrend an der Dominante hängen, der, nach der wiederholten Einleitung, der Choreinsatz als — wie gesagt — Wiederholung des bisherigen folgt. Diese letzte Takte vor Einleitungswiederholung (poco ritenuto, poco Adagio, Tpo I[2]) sind aber sehr, sehr merkwürdig. Sie stellen ein Motivisch-thematisches dar, welches — mindestens in dieser Form — nie! wiederkehrt und machen im ersten Augenblick den Eindruck als ob hier ein Seitensatz (eben: auf der Dominante) losginge. Das ganze stellt sich aber — im doppelten Sinne des Wortes — als ein Trugschluss heraus.
3b — Auch hier wird nicht völlig kadenziert. Eine ziemlich geringfügige Verlängerung der 4 Takte führt zu einem Halbschluss auf der Dominante. Wie weit ist man berechtigt hier mit dem Worte "Oberleitung" zu hantieren? — —
Ich habe also zu Ende, ziemlich eingehend, das Hauptthema beschrieben.
Und was nun?
Ich sprach von einem Rondo. Von einem: A, B, A, C, A, B, A. Nun wissen wir: In einem Rondo, kann das C durch eine Durchführung ersetzt sein. Warum soll es also nicht denkbar sein, dass man hier ein Auf-den-Kopf-stellen vornehmen kann? Ich meine: dass anstatt des C, wird das B durch eine Durchführung ersetzt, folgend, dass daraufhin das C unbedingt einen Seitensatz bildet! Und dass ist unser Fall hier.
Was ist aber mit den zwei Mal Thema in B Dur? Da bleibt mir nichts übrig — vielleicht habe ich vollkommen recht, vielleicht überhaupt nicht — als sie Einleitung zur Durchführung nennen.
Wie aber erklären die Breite dieser Durchführungseinleitung?
Vielleicht am besten so: Wir haben gesagt dass diese Durchführung den Raum des ersten Seitensatzes einnimmt. Zu diesem ersten Seitensatz — in Anlehnung an die Sonatenform — können wir uns eine "Wiederholung des Hauptthemas" denken, die Überleitungszwecken dienen soll. Dass diese "Wiederholung des Hauptthemas" hier fest ist — aber dennoch: nicht mehr in D Dur! — ist eben darauf zurückzuführen dass es hier doch zu keinem Seitensatz übergeleitet wird, sondern ... eine Durchführung eingeleitet!...
Für alle Fälle schauen wir uns näher diese zwei Mal Thema B Dur an.
Schlusstakte fehlen hier völlig. Dass erste Mal ist wieder ohne Chor, das zweite Mal wieder mit Chor. (Somit wirklich, wie wenn verkürzt, das ganze Bisherige in einer Wiederholung gebracht wäre: wie früher 4 zu 3, hier 1 zu 1. Aber: wie früher die 3 kürzer waren als die 4, sind auch hier (aber umgekehrterweise) die erste 1 kürzer als die zweite 1! Nähmlich das erste Mal, wird ganz ausnahmsweise 2. und 3. Teil des dreiteiligen Liedes nicht wiederholt!!! D. h. kürzer dem zweiten 1 gegenüber, wo ja wiederholt wird.
Über die Durchführung an sich sprechen wir bei der nächsten Gelegenheit.
Die erste Reprise des Hauptthemas ist einmal das Lied (mit Wiederholtem 2. und 3. Teil.)
Der Raum des zweiten Seitensatzes ist von einem solchem, nicht zu bezweifelndem angenommen. (3/2 Takt)
Die zweite Reprise ist kein dreiteiliges Lied mehr, sondern eine Fuge in D Dur, wo das Fugenthema vom Hauptthema her kommt.
Warum ist aber hier als Gegenthema der 3/2-Takt-Seitengedanke verwendet?
Vielleicht deswegen: nach dieser Reprise des Hauptthemas, müsste eine Reprise des 1. Seitensatzes folgen. Wie kann man aber die Reprise einer Durchführung machen?! Lächerlich. Also muss diese fehlen. Aber da muss ein Ersatz, oder so etwas geschehen.
Und denkbar ist folgendes, was auch geschah, meiner Ansicht nach:
Nein: die Reprise des ersten Seitensatzes durch eine Reprise des 2. Seitensatzes zu ersetzen war — undenkbar.
Aber die vorangehende Reprise des Haupthemas in fugierter Form bringen — wie die Durchführung! — diese Fuge (in D Dur: die Tonart in der auch die Reprise des folgenden Seitensatzes hätte gebracht werden müssen) als eine gleichzeitige Reprise sowohl des Hauptthemas als auch des 1. Seitensatzes auffassen und nur daraufhin diesen 1. Seitensatz durch den 2. Seitensatz (als Gegenthema) ersetzen ist denkbar. Auf ein Nebengeleise kann man das tun, was man auf ein Hauptgeleise nicht tun kann. — Ich meine die Ersetzung.
Dann! —, nachdem das geschehen ist, kann man den Raum der Seitensatzreprise sogar auch tatsächlich mit der Materie des 2. Seitensatzes völlig ausfüllen, wie es hier geschieht. Aber es handelt sich nicht mehr um den Seitensatz hier: dessen Raum wird hier verwendet zur Bildung einer Art Überleitung zur Coda. Ober diese Coda (Allegro ma sostenuto) überlasse ich Dir zu sprechen.
(Fortsetzung vom 15./1.)
Überhaupt erwarte ich von Dir: einerseits eine Stellungnahme zu meiner Auffassung, andrerseits eine eingehende Erörterung dessen, was von mir nur gestreift wurde.
Bitte, lieber Spinner, verschaffe Dir die 2. Violinsonate Beethovens A-Dur op. 12 № 2. Schaue Dir bitte dessen 2. Satz (in A mol) an. Aus gewissen Gründen möchte ich sehr gerne dass wir diesen Satz besprechen. [...]
Aus den Briefen an Spinner werden hier die Stellen wiedergegeben, die musikalische Fragen betreffen; nicht jedoch einige private Mitteilungen an den Briefempfänger. Über Spinner s. Amnerkung 2 zu Brief XVHI an Berg, in diesem Band, S. 50.