An der Poliphonie
Die Poliphonie ist das Kind der Einslimmigkeit. Sie stellt die in verschiedenen Höhen vor sich gehende Einstimmigkeit — einige Stimmen die auf verschiedenen Höhen eins und dasselbe sangen, — die an einen gegebenen Moment der Musikgeschichte sich von einer gerissen haben. Die Imitation, der Kanon sind nicht anderes als Mehrstimmigkeit gewordene Einstimmigkeit. Das Wunder der Polyphonie hat nicht zustande kommen können und eine sehr lange Zeit nicht vor sich gehen können ohne das Geländer der Einstimmigkeit. Die Poliphonie ist genau so horizontal wie die Einstimmigkeit gewesen. Sie war Mehrstimmigkeit, die von der Einstimmigkeit sich noch nicht losgelöst hatte. Sie zog ihre Kraft aus. der Einstimmigkeit, genau so wie Antheus aus der Mutter-Erde.
In ihrem Schoss entstand die Homophonie, die in diesem Sinn als echte Mehrstimmigkeit betrachtet werden muss, weil erst sie die Abhängigkeit von der Einstimmigkeit als energetische Kraft loswurde.
In der Poliphonie ist die vertikale Erscheinung der Töne eine "Neben"-sächlichkeit deren horizontalen Erscheinung gewesen. Die Erscheinung der Homophonie stellt eine Verkehrung des Verhältnisses Horizontal-Vertikal dar.
Lange haben Poliphonie und Homophonie miteinander gehaust, und ihr Zusammenleben haben sie eigentlich nie vollständig aufgegeben. Ist aber letzteres am Anfang Aschenbrödel gewesen, wurde sic mit der Zeit zur Herrin. So sie bei Bach das der Fuge als Dienerin vorangehende Präludium abgegeben, bei Beethoven, umgekehrt die Poliphonie das Dienende war (in den Durchführungen, im zweiten Teil des vom dreiteiligen Lied abgegebenes Hauptthema).
Kürzer als der Weg von der (herrschenden) Poliphonie zur (herrschenden) Homophonie ist der Weg von den Kirchentonarten zur Dur-moll-Tonalität. Bach erschien lange nach dem diese einenfait accompli darstellte. Er stellt aber den Höchsten Punkt der Entwicklung der Tonalität unlter den Bedingungen der Poliphonie dar. Nicht umsonst hat ihn Schönberg den ersten Zwölfton-Komponist genannt. (Er meinte damit ...) Ebem weil Bach einen K<?>punkt der Tonalitätsentwiklung, hat er damit die Ablösung der Poliphonie durch die Homophonie erzwungen.
Für die entwickelte Tonalität war die Poliphonie zur (suranneé) geworden. Weil die entwickelte Tonalität eine neue ? Form brauchte, für welche die Poliphonie ein zu enger Rahmen war.
Im Weiteren werden wir sehen, dass die Form, das Realisierungs Instrument des tonalen Gleichgewichts darstellt, wir werden sehen was das heisst.
Einstweilen nehmen wir zur Kenntnis, das Satz, Harmonie und Form eine nacheinandergehende Entwicklung haben.
1988